Rindertierärzte verbringen einen Großteil ihrer Arbeit mit dem Tier und in der Herde. Einige der Tätigkeiten verursachen starken Stress für die Kühe, der zu Unfällen führen kann. Ca. 8.000 meldepflichtige Unfälle zählt die Sozialversicherung für Landwirtschaft im Jahr mit Rindern, einige davon verlaufen leider tödlich. Die Beziehung Mensch-Rind ist von vielen Faktoren geprägt. Tierärzte und Landwirte können sie aktiv gestalten. Low Stress Stockmanship bietet eine Möglichkeit, die Kommunikation zwischen Kühe und Menschen auf eine Ebene zu bringen, die weniger negativen Stress für Tier und Mensch bedeutet und damit zu mehr Sicherheit im Arbeitsalltag sowie einem erhöhten Tierwohl beiträgt.
Auch Milchviehhalter trainieren zuerst in einer Mutterkuhherde

Eine fast 100 Tier starke Rinderherde in Brandenburgs Weiten wartet auf neue Weidezuteilung. Die Angusrinder wissen genau, was passiert, wenn der Trecker mit der jungen Frau herbei rumpelt. Sie muhen, drängeln, schlagen aufgeregt mit dem Schwanz. Ruhig geht die Herdenmanagerin an der Herde vorbei, in der sich auch zwei kräftige Bullen befinden und zahlreiche Muttertiere mit ihren Kälbern. Ronja Leopold öffnet den Zaun und die Tiere nehmen ihre neue Weide mit einem kräftigen Herdenlauf in Besitz. Nach und nach kommen die Tiere zur Ruhe und begeben sich wieder in ihre Herdenpositionen.
Nun beginnt Wilhelm Schäkel, Eigentümer der Bio Ranch Zempow und überzeugter Anwender des Low Stress Stockmanship (LSS), mit der Herde zu arbeiten. In weiten ZickZack-Bewegungen geht er auf vereinzelte Tiere zu und treibt sie damit zur Gesamtherde. Er strahlt bei seinen ruhigen, klaren Wegen viel Gelassenheit aus. „Durch eine klare Ansprache der Tiere, Verlässlichkeit in meinen Handlungen, habe ich mir die Stellung eines ranghohen Herdentieres erarbeitet.“ Eine wichtige Grundvorraussetzung, so Schäkel, für erfolgreiche Herdenarbeit. Was so einfach und fast schon lapidar wirkt, ist das Ergebnis hochkonzentrierter Beobachtung der Tiere und eines gut ausbalancierten Systems von Druck und wieder Loslassen. Wieviel Konzentration das bedarf, wieviel ein Meter zu nah oder zu weit entfernt von dem Tier ausmacht, erfährt man erst, wenn man es selber ausprobiert. Besonders faszinierend ist der Balancepunkt. Es ist der Bereich um die Schulter des Tieres. Je nachdem, aus was für einer Richtung, in was für einem Winkel der Treiber auf den Bereich zutritt, kann er die Richtung bestimmen, die das Tier einschlägt.
Wilhelm Schäkel gibt vielen Menschen die Möglichkeit, diese Art der Kommunikation mit den Rindern zu erlernen. Tierärzte, Landwirte, Studierende, aber auch kuhaffine Feriengäste können bei ihm auf unterschiedlichen Niveaus das LSS erfahren und erlernen. „Grundsätzlich ist es einfacher, die ersten Erfahrungen mit dieser Methode auf der Weide mit einer Mutterkuhherde zu machen“, so Schäkel. Hier zeigen die Tiere ihre natürlichen und damit auch erwartbaren Reaktionen am deutlichsten und am ehesten, was es dem Anfänger einfacher macht. Insofern kamen auch schon einige Milchkuhhalter zu seinen Kursen, um das Prinzip der Kuhkommunikation in seiner reinsten Form zu erlernen. Besonders stark wächst die Nachfrage bei Betrieben mit automatischen Melksystemen.
Schäkel berichtet, dass leider häufig erst dann Landwirte sich zu seinen Kursen anmelden, wenn sich bereits Unfälle mit den Tieren ereignet haben. Aber auch Herden, die bisher negative Erfahrungen mit Menschen gemacht haben, können durch das LSS bis zu einem gewissen Maß umgepolt werden, so Verhaltenstrainerin Gillandt. Gillandt, die in Niedersachsen LSS-Kurse für Tierärzte und Hobbylandwirte anbietet, betont, dass LSS ein System ist, in dem Tiere sehr gut wieder Vertrauen aufbauen können.

Die zunehmende Automatisierung im Kuhstall führt zu weniger Mensch-Kuh-Kontakt
Wie so vieles im Leben kann eine Entwicklung Fluch und Segen zugleich sein. Mit der zunehmenden Automatisierung der Tätigkeiten im Milchviehstall, z. B. durch Melkroboter, Futtervorschieber oder Gülleabschieber, sind die Tiere rund um die Uhr meist optimal versorgt. Häufig wird auch berichtet, dass die Herde im Allgemeinen ruhiger und entspannter wirkt. Tritt dann aber die Notwendigkeit auf, dass doch eine Handlung am Tier durchgeführt werden muss, wie z. B. das Einbringen von Zitzenversieglern oder die Trächtigkeitsuntersuchungen des Tierarztes, sind die Tiere und der Mensch mit dieser Maßnahme häufig überfordert. Fehlen dann noch ausreichend Fixierungsmöglichkeiten wie zum Beispiel Fressfanggitter, ist der Stresslevel bei allen Parteien gleichermaßen hoch. Ein Tierarzt jedoch, der die Grundidee des LSS sich zu eigen macht und auch seinen Landwirt überzeugt, mit dieser Methode bei seiner AMS-Herde zu arbeiten, kann diese Situationen reduzieren.
So trainiert Gillandt häufig im praktischen Teil ihrer Kurse, wie der Zutrieb im Wartebereich durch die richtige Positionierung des Tierarztes unterstützt werden kann. Im Ergebnis kann der Tierarzt dann sowohl ruhigere Rinder besser untersuchen und aufgrund des besseren Tierflusses kommt es zu weniger Wartezeiten. Eine Win-Win-Win Situation für Tier, Landwirt und Tierarzt.
„Low Stress Stockmanship ist eine Grundeinstellung zum Tier. Wenn sie erfolgreich sein soll, dann muss sie von allen Mitarbeitern getragen werden.“
Diese Aussage ist für Schäkel eine ganz wichtige Voraussetzung, um Veränderungen in einem Betrieb im Umgang mit Rindern umzusetzen. Es hilft nicht, wenn nur ein Mitarbeiter Kuhkommunikation erlernt, die anderen aber weiterhin ihre Routine durchziehen. Die Herde muss allen Personen vertrauen können, die mit ihr arbeiten. Was aber ist nun das Grundprinzip der Methode?
Das Prinzip von Druck und dem Entzug von Druck als negativer Verstärker
Bud Williams begründete in den sechziger Jahren in den USA das Low Stress Stockmanship. Aus seinen langjährigen Erfahrungen mit der Herdenarbeit in Nord-Kalifornien entwickelte er seine Schule des Low Stress Stockmanship und unterrichtete viele Rinderhalter darin.
Grundlage ist das Zonen-Konzept.
Nahzone/Körperkontaktzone: Dies ist der direkte Bereich um das Tier herum. Natürlicherweise weichen die Tiere dem ranghöheren Herdentier aus, wenn es in diese Zone eintritt. Als Treiber muss ich mir das Vertrauen und die Position eines ranghohen Herdenmitglieds erarbeitet haben, damit ich mit dem direkten Impuls, einen Schritt auf das Tier zuzutreten, in dieser Zone arbeiten kann. Bei der Arbeit mit den Tieren muss immer bedacht werden, dass Rinder viel mehr Zeit als Menschen benötigen, um Distanzen zu überwinden.
Mittlere Zone/Bewegungszone: Dies ist die Zone, in der die Rinder durch einen indirekten Impuls, wie zum Beispiel die ZickZack-Bewegung, getrieben werden. Ist der gewünschte Effekt eingetreten, ist es wichtig, den Druck wieder zu verringern. Dies geschieht, indem man selbst wieder zurücktritt. Dieses positive Element, der Druckentzug ist sehr wichtig.
Beobachtungs-/Wahrnehmungszone: Dies ist der Raum, in dem die Rinder den Menschen registrieren, aber noch nicht reagieren.
Wichtig bei dem Zonenkonzept ist, dass es keine starren Größenvorstellung gibt, sondern dass die Zonen tierindividuell und auch abhängig von der Gesamtsituation sind. Es bedarf also immer eines Momentes des „Abspürens“, wie Schäkel es nennt, bevor man auf eine Herde, auf ein Einzeltier zutritt.
Einen weiteren Aspekt stellt der sogenannte Balancepunkt dar, der sich im Schulterbereich befindet. Bewegt sich der Treiber vom Rand der Bewegungszone aus seitlich nach vorne zum Kopf des Tieres, weicht das Tier nach hinten aus. Eine seitliche Annäherung Richtung Schwanz führt zu einer Bewegung nach vorne. Diese Steuerung kann sehr exakt sein, wenn der Treiber genau beobachtet und angemessen auf die Reaktionen des Tieres reagiert.
Mit den Augen einer Kuh

Low Stress Stockmanship setzt voraus, dass der Mensch sich in das Rind hineinversetzt. Mittlerweile gibt es sogar schon Virtual-Reality-Brillen, die den Benutzer die Sichtweise einer Kuh vorführen. Diese wichtige Erfahrungen werden zur Ausbildung von Landwirten eingesetzt, um Reaktionen von Kühen besser zu verstehen und seine Handlungen besser dem Sinnesvermögen der Tiere anzupassen.
Zur Erinnerung: Rinder haben ein sehr weites Sichtfeld von ca. 330°. Der Mensch hat im Vergleich dazu nur einen Sehwinkel von 210°. Die nicht einsehbaren 30° direkt hinter dem Rind sind der tote Punkt. Die Rinder reagieren äußerst sensibel auf eine Annäherung in diesem Punkt. Außerdem sehen Rinder nicht sehr scharf und können Entfernungen nur schlecht einschätzen. Schließlich dauert es sehr lange (ca. fünf Minuten), bis sie sich an veränderte Lichtverhältnisse gewöhnt haben.
Fazit
Möchte man seinen Arbeitskollegen, das Rind ernst nehmen, sollte man sich genau mit seiner Sprache, seinen Verhaltensweisen auseinandersetzen. Low Stress Stockmanship bietet einen pragmatischen Ansatz, sein Verhältnis zum Rind zu verbessern und ein gutes Arbeitsklima zu schaffen. Spricht man wenigstens ansatzweise „die gleiche Sprache“, gibt es weniger Missverständnisse und die Arbeitssicherheit erhöht sich. Für die Tiere bedeutet es weniger Stress und damit ein erhöhtes Tierwohl.
Wo kann ich Low Stress Stockmanship lernen?
Low Stress Stockmanship ist eine Methode aus den USA, die in Deutschland von verschiedenen Trainern angeboten wird (und auch unterschiedlich interpretiert wird). Die Aufzählung der Trainingsmöglichkeiten ist nicht repräsentativ und nur selektiv.
- Bio Ranch Zempow
www.bio-ranch-zempow.de
Dr. Schäkel und seine Mitarbeiter und ihre knapp 300 Angusrinder sowie 15 Gotlandschafe bieten bei ganzjähriger Weidehaltung ein umfassendes Lehrangebot für Tierärzte, Landwirte und Studierende in Brandenburg. - Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG)
www.svlfg.de/rinderhaltung
Neben umfassenden Broschüren zum Thema Arbeitssicherheit im Rinderstall bietet die SVLFG auch Kurse an, die auf den Prinzipien des LSS beruhen. - KTier-Training – Stockmanshipkurse von Tierärztin Gillandt für Tierärzte und Hobbylandwirte in Niedersachsen
www.ktier-training.de