Und das ist nur von Vorteil: Denn um zu überleben, sind Wiederkäuer in freier Wildbahn darauf ausgerichtet, ihren Feinden niemals eine Schwäche zu zeigen. So versuchen sie als Fluchtiere möglichst vor ihren Jägern zu verbergen, dass sie verletzt oder erschöpft sind. Laute Schmerzäußerungen würden nur die Aufmerksamkeit auf sich selbst, die Beute, lenken. Beim Hausrind ist es ähnlich: Auch sie zeigen nur undeutliche, vage Schmerzäußerungen. Was aber nicht bedeutet, dass Rinder keine Schmerzen empfinden. Leider führt dies oft dazu, dass ihre Leidensfähigkeit überstrapaziert wird.
Fragen und Antworten
Was ist Schmerz?
Die Internationale Gesellschaft für Schmerzforschung definiert den Schmerz als ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder drohender Gewebeschädigung einhergeht oder mit ihr im Zusammenhang steht. Schmerz zu definieren oder zu objektivieren ist sehr schwierig, da er eine individuelle Erfahrung darstellt. Auch wenn Tiere sich nicht direkt in unserer Sprache mitteilen können, so steht fest, dass auch sie Schmerzen empfinden können und eine Schmerztherapie sinnvoll ist. Über aufsteigende Nervenbahnen werden schmerzhafte Reize im Großhirn „gemeldet“ und dort als Schmerz wahrgenommen, durch absteigende Nervenbahnen werden dann entsprechende Reaktionen, wie zum Beispiel das Zurückziehen eines Beines, ausgelöst. Es wird als Fortschritt in der Evolution angesehen, Schmerzen empfinden zu können, da sie eine wichtige Schutz- und Warnfunktion ausüben. Dieses „Schadenfrühwarnsystem“ kann lebensrettend sein.
Schmerz kann anhand von verschiedenen Parametern unterschieden werden. Zum einen nach dem Entstehungsort: als somatischer Schmerz wird der Oberflächenschmerz (z.B. auf der Haut) und der Tiefenschmerz (z.B. in Muskeln, Knochen und Gelenke) bezeichnet. Von Menschen wird der Oberflächenschmerz häufig als stechend oder brennend, der Tiefenschmerz als dumpf bohrend beschrieben. Der Eingeweideschmerz (viszeraler Schmerz) wird bei starker Dehnung von Hohlorganen empfunden und verläuft oft krampfartig. Zum anderen kann der Schmerz in leicht, mittelgradig und stark eingeteilt werden. Plötzlich auftretender Schmerz wird als akut bezeichnet und verschwindet wieder, wenn die Schädigung behoben ist. Chronische Schmerzen dagegen bestehen über einen längeren Zeitraum (im allgemeinen über ein halbes Jahr), sie stellen ein eigenes Krankheitsbild dar und besitzen keine Schutz- und Warnfunktion mehr.
Wie zeigen Rinder Schmerzen?
Das Schmerzempfinden ist bei allen höheren Wirbeltieren ähnlich. Der Unterschied von Rindern zu anderen Tierarten und dem Menschen liegt dagegen in ihrer Verhaltensreaktion auf Schmerzen.
Unsere Hausrinder stammen von Wildtieren ab, welche als Beutetiere gejagt wurden. Ihre Überlebensstrategie liegt darin, Schmerzen und Schwäche nicht zu zeigen, damit Raubtiere nicht auf sie aufmerksam werden. Oft wird daher aufgrund ihres stoischen Naturells fälschlicherweise angenommen, dass Kühe unempfindlich für Schmerzen sind.
Anzeichen für Schmerzen bei Rindern sind:
- Abweichungen vom normalen Verhalten beim Kot- und Harnabsatz und beim Fressen: z.B. Rückgang der Futteraufnahme
- Veränderung im Sozialverhalten: z.B. Absonderung von der Herde, Verlust des Rangordnungsplatzes, aber auch aggressives Verhalten gegenüber Artgenossen ist möglich
- Haltungs- und Gangbildveränderungen: z.B. bei Schmerzen im Bewegungsapparat: Kopf und Hals gesenkt, Rückenlinie gekrümmt, Schonhaltung der betroffenen Gliedmaße, längeres Stehen und Liegen, Mobilität eingeschränkt
- Schwanzschlagen auch bei Abwesenheit von Fliegen, wiederholtes Anziehen und Wiederausstrecken von Gliedmaßen, Kälber schlagen sich gegen den eigenen Bauch, Scharren, Aufwerfen von Einstreu: z.B. Einsetzen des postoperativen Wundschmerz nach Bauchhöhlenoperationen wenn die örtliche Betäubung abklingt
- Bei starken Schmerzen: Zähneknirschen und Stöhnen, Blick ins Leere („Schmerzgesicht“: leicht gerunzelte Augenlider, Ohren zurückgestellt, weite Nasenöffnungen), sehr selten: Schmerzbrüllen
Letztendlich führen Schmerzen immer zu einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens. Eine hohe Leistung kann aber nur erbracht werden, wenn sich die Tiere wohlfühlen. Wachstumsverzögerungen, verringerte Fruchtbarkeit und sinkende Milchleistung können folglich also auch Anzeichen von Schmerzen sein.
Gibt es typische Beispiele für Schmerzen bei Rindern?
Grundsätzlich können alle Erkrankungen zu Schmerzen führen, insbesondere bei allen entzündlichen Prozessen ist mit Schmerzen zu rechnen.

Quelle: Dr. Fischer-Tenhagen
Beispiele für typische „Schmerzsituationen“ bei Kälbern:
- Folgen von Zughilfen bei einer Schwergeburt
- Knochenbrüche
- Enthornen
- Nabelabzess
- Nabelbruch-OP
- Gelenksentzündungen
- Durchfall
- Lungenentzündungen
- blutige (OP) und unblutige (Burdizzo-Zange) Kastration
Beispiele für typische „Schmerzsituationen“ bei erwachsenen Rindern:
- Euterentzündungen (insbesondere akute E. coli Mastitis, aber auch „einfache“ Mastitiden mit Flocken führen zu Schmerzen)
- Akute Gebärmutterentzündungen
- Schwergeburt und geburtshilfliche Maßnahmen (Zughilfe)
- Kaiserschnitt
- Labmagen-OP
- Augenentzündung (Uveitis)
- Knochenbrüche
- Enthornen
- Klauenerkrankungen und deren Behandlung (z.B. Sohlengeschwüre, Mortellaro, Klauenamputation)
Was gibt es bei Rindern für Möglichkeiten zum Schmerzmanagement?

Quelle: Dr. Berchthold
Als wichtigste Maßnahme sollte natürlich die Schmerzursache beseitigt werden. Aber häufig reicht das allein nicht aus, um das Wohlbefinden des Tieres wieder herzustellen. Das Schmerzempfinden lässt sich mittels verschiedener Wirkstoffe (Analgetika) im Rahmen einer symptomatischen Therapie auf mehreren Wegen beeinflussen.
- Kortikosteroide und Nichtsteroidale Entzündungshemmer (NSAID): reduzieren Entzündungen und setzen die Sensibilität der Schmerzrezeptoren herab. Diese Wirkstoffe bieten sich bei entzündlichen Prozessen wie beispielsweise Pneumonien, Durchfallerkankungen und Mastitis an, sie sind ausreichend bei leichten Schmerzen.
Wirkstoffbeispiele: Carprofen, Flunixin , Ketoprofen, Meloxicam, Metamizol, Ketoprofen - Spasmolytika: lösen schmerzhafte Verkrampfungen der glatten Muskulatur, z.B. im Magen-Darmtrakt im Rahmen eines Durchfallgeschehens oder bei einer Kolik
Wirkstoffbeispiele: Butylscopolamin, Metamizol - Lokalanästhetika: betäuben die Schmerzrezeptoren und verhindern so ein Weiterleiten des Schmerzreizes in das Gehirn. Zur örtlichen Betäubung des Operationsfeldes, z.B. bei einem Kaiserschnitt oder einer Labmagen-OP, beim Enthornen, bei Klauenoperationen oder in Kombination mit Xylazin bei Nabeloperationen.
Wirkstoffbeispiele: Procain, Lidocain - Allgemeinanästhetika: führen durch eine Vollnarkose zu einer Ausschaltung des Bewusstseins, können als Injektionsnarkose z.B. mit Ketamin und Xylazin oder als Inhalationsnarkose (z.B. mit dem Narkosegas Isofluran) v.a. bei Operationen von Kälbern eingesetzt werden (in einer Tierklinik).
- Xylazin: wird zur Analgesie (Schmerzausschaltung), Sedation (Ruhigstellung) und zur Muskelentspannung eingesetzt und eignet sich vor allem in der Kombination mit Lokalanästhetika sehr gut, z.B. bei Klauenbehandlungen oder einem Kaiserschnitt.
Bei der Kombination der analgetischen Wirkstoffe kann das Schmerzempfinden auf den verschiedenen schmerzleitenden Ebenen unterbrochen werden (sogenannte multimodale Schmerztherapie), so dass sich häufig ein noch besserer Effekt als bei der alleinigen Verabreichung der einzelnen Wirkstoffe erzielen lässt. Gleichzeitig reduzieren sich die Nebenwirkungen durch die Verminderung der Einzeldosen
Warum ist es so wichtig, frühzeitig Schmerzen zu erkennen und zu behandeln?
An sich ist der Schmerz eine sinnvolle Einrichtung des Körpers, der durch seine Reaktionen wie z.B. das Zurückziehen einer Gliedmaße oder der Fluchtreaktion vor weiteren Schäden bewahrt. Allerdings können besonders starke oder langandauernde Schmerzen (z.B. bei Operationen oder Klauenerkrankungen) zu einer Sensibilisierung des schmerzleitenden Systems führen. Dabei kommt es durch die Gewebeschädigung zur Freisetzung verschiedener Botenstoffe und anschließender Entzündungsreaktion; über die verschiedenen Nervenbahnen wird dies dem Gehirn gemeldet und kann dort zur Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses führen. Dadurch können eine verstärktes Schmerzempfinden (Hyperalgesie) und eine gesteigerte Empfindlichkeit auf eigentlich nicht schmerzhafte Reize (Allodynie) entstehen. Durch eine adäquates Schmerzmanagement sollte dies unbedingt verhindert werden, denn ein späterer „Ausgleich“ durch hochdosierte Schmerzmittel ist meist nicht erfolgreich.

Quelle: Dr. Tischer
Beispielsweise konnte bei der Kastration oder Enthornung von Kälbern in vielen Studien gezeigt werden, dass durch die Kombination von Lokalanästhetika und Xylazin und der zusätzlichen Gabe von Entzündungshemmern vor der Operation (sogenannte präventive Schmerztherapie) der postoperative Schmerz verringert werden konnte. Damit verbessert sich auch die Rekonvaleszenz, was zu einer Produktivitätssteigerung durch eine gesteigerte Futteraufnahme und einer höheren Gewichtszunahme führt.
Fazit
Allein aus ethischen Gründen liegt es in der Verantwortung des Landwirts, für das Wohlbefinden seiner Tiere zu sorgen und Schmerzen sobald möglich zu lindern oder vorzubeugen. Aber auch durch das Tierschutzgesetz wird geregelt, wie mit schmerzhaften Situationen umgegangen werden soll (z.B. Enthornen). Durch eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit und verringerte Produktionsleistung wirken sich Schmerzen auch direkt negativ im wirtschaftlichen Bereich aus. Zu guter Letzt leidet auch das Image bei den Konsumenten, wenn Nutztieren nicht unnötige Schmerzen, Schäden und Leiden erspart bleiben. Ein gutes Schmerzmanagement rechnet sich also für alle Beteiligte.
Stand September 2014